Es sind beeindruckende Zahlen: Bis zu 250.000 Menschen demonstrierten am vergangenen Wochenende auf der größten Demonstration seit 13 Jahren in den Straßen Berlins gegen das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Beeindrucken kann schon seit vielen Wochen auch das Engagement der ehrenamtlichen Helfer in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Ohne ihre kontinuierlichen Anstrengungen, so viel ist sicher, könnte die mangelhafte Versorgung der schutzbedürftigen Flüchtlinge seitens des Staates schon längst nicht mehr ausgeglichen werden. Nicht minder beeindruckend ist die gewachsene Kampfesbereitschaft deutscher Gewerkschaftler, die öfter dazu bereit sind Tarifkonflikte auch durchzukämpfen. Erinnert sei an die Streikbewegungen der Lokomotivführer und der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten.
Zugegeben, das sind sehr unterschiedliche Konfliktfelder. Gemeinsam ist ihnen, dass es sich um traditionelle Gegenstände linker Politik handelt. Angesichts dessen wirkt die These, dass sich Menschen in Deutschland nicht ausreichend für politische Themen und linke politische Standpunkte begeistern könnten, geradezu deplatziert. Vielmehr wird in den zurückliegenden Wochen eine ungeheure Menge an Menschen sichtbar, die sich zumindest gefühlt ganz selbstverständlich in die Nähe linker Politik begibt und eine politische Vertretung einfordert. Sichtbar wird hier, mit einem Wort des Soziologen Wolfgang Streeck, eine „politische Produktivkraft moralischer Empörung“, die von der Linken aufgegriffen werden sollte.
Linke politische Parteien haben hiervon allerdings bislang kaum profitiert, das gilt für die LINKE ebenso wie für ihre möglichen Partner innerhalb eines Regierungsbündnisses, Die Grünen und die SPD. Vielleicht sollte sich die deutsche Linke angesichts dessen auf einen Weg begeben, der im europäischen Ausland längst beschritten wurde und in Griechenland und Spanien zumindest zu einem enormen Bedeutungsgewinn linker Kräfte geführt hat, die an einer grundlegenderen Veränderung der Gesellschaft interessiert sind. Die Rede ist von einem linken Populismus.
Bisher erlebt die deutsche Linke nicht mehr als zarte Anfänge einer Diskussion über ein solches wünschenswertes linkspopulistisches Projekt. Als intellektuelle Stichwortgeberinnen dient zumeist das Autorenehepaar Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Ihre Ideen lieferten Inspiration für die politischen Erfolge der griechischen SYRIZA, insbesondere aber von Podemos in Spanien. In Spanien entstand auf dieser Basis ein linkes Projekt mit Masseneinfluss. Den Ausgangspunkt dabei liefern Legitimationsprobleme, die aus neoliberalen Entwicklungen selbst erwuchsen. Sie äußern sich etwa in wachsender Wahlenthaltung oder sinkenden Umfragewerten für etablierte Parteien. Eben dies unterstreichen auch alle drei einführend genannten Beispiele. Grund genug also über einige Grundelemente des Linkspopulismus zu reden.
Hierfür lohnt ein Blick in die Analysen vor allem Laclaus. Zentral für jeden Populismus, so Laclau, sei die in politischen Auseinandersetzungen und Diskursen hergestellte Frontstellung zwischen „dem Volk“ und einer abgehobenen politischen Elite, die durch den Einfluss mächtiger (wirtschaftlicher) Interessengruppen dirigiert wird. In Deutschland wurde diese Argumentationsfigur in der letzten Zeit durch die rechtspopulistische AfD aufgegriffen, allerdings ist sie kein rechtes Alleinstellungsmerkmal. Besonders in der Gründungsphase Der LINKEN argumentierte die junge Partei vor allem in Person Oskar Lafontaines entlang dieser prinzipiellen Spaltung. Der Unterschied zwischen Links- und Rechtspopulismus ist enorm. Mögen rechte Populisten politische Eliten auch heftig als Establishment kritisieren, Wut und Hass richten sie gleichwohl auf Fremde und die Schwachen der Gesellschaft. Anders der linke Populismus, der von einem weitreichenden Solidaritätsbegriff ausgeht, die Kritik an politischen Eliten zum Anlass nimmt die weitere Demokratisierung der Gesellschaft zu fordern und „das Volk“ dazu auffordert treibende Kraft zu werden.
Zugespitzte und auch personalisierende Elitenkritik sollte die Linke nicht schrecken, solange sie Ausgangspunkt und nicht Endpunkt der eigenen Politik ist. Ist die Gegnerschaft gegen „die da oben“ nicht seit jeher selbstverständlicher Bestandteil linker Politik, sei es in der Arbeiterbewegung oder unzähligen unabhängigen politischen Initiativen und sozialen Bewegungen? Muss linke Politik nicht genau das leisten, muss sie nicht den Gegensatz zu den Herrschenden geradezu überpolitisiert ins Zentrum ihrer Politik setzen, um eine wirkungsvolle und glaubwürdige Vertretung der „Kleinen“, der „einfachen Arbeiter und Angestellten“, der sich mühenden Frauen und Migranten, kurz: der „Subalternen“ zu verkörpern?
Tatsächlich steht dieser Gegensatz im Mittelpunkt der einleitend genannten Beispiele. In den Protesten gegen TTIP drückt sich angesichts drohender Aushöhlungen von Umwelt- und Verbraucherstandards, undurchsichtigen Schiedsgerichten und Investitionsschutzgesetzen eine diffuse aber durch und durch berechtigte Anklage gegen ein oligarchisches Konglomerat wirtschaftlicher und politischer Global Player aus. Auch die Helfer in der Flüchtlingskrise deuten auf die Unzulänglichkeiten und zutiefst mangelhafte Unterstützung der staatlichen Institutionen und einer zu jeder Abschottung aber kaum zu Lösungen bereiten europäischen Politik hin. Insbesondere hier wird eine Solidarität der einfachen Menschen spür- und auch sichtbar. Ähnliches gilt in den Tarifkonflikten bei der Bahn oder in den Sozial- und Erziehungsdiensten. Eine angemessene Entlohnung für sozial wertvolle und belastende Arbeit muss dem Staat und überbezahlten Vorständen hart abgerungen werden. Auch in einem vierten Beispiel, dem derzeitigen VW-Abgasskandal richtet sich die Wut auf ein abgehobenes Management, das kaum von der Politik kontrolliert wurde – der zugehörige Beistand zur Arbeitnehmerschaft hingegen bleibt leider weitgehend aus. Gerade in der Arbeitswelt, das zeigen wissenschaftliche Untersuchungen deutlich, wächst das Gefühl erbrachtes Arbeitsleid werde nicht mehr angemessen entgolten, weder durch Geld, noch durch soziale Anerkennung. Wo das so ist, wächst das Bedürfnis nach einer politischen Stimme. In Frankreich oder Österreich etwa wurde diese Lücke von der Rechten besetzt, die das soziale Leiden der „kleinen Leute“ in autoritären Politikentwürfen aufgegriffen hat.
Linker Populismus muss daher als eine Möglichkeit betrachtet werden, Leid und Wut eine laute Stimme zu geben und den in der „Postdemokratie“ entleerten Raum politischer Richtungsstreitigkeiten neu zu konstituieren. Er nutzt hierfür die Mittel der Vereinfachung und Verdichtung. Komplexitätsreduktion kann guten Gewissen als Kern jeglichen politischen Handelns angesehen werden. Tatsächlich begegnet sie uns auch aus Reihen der CSU mit ihrer demagogischen Forderung, Asylverfahren an den Grenzen abzuwickeln. Vereinfachung geht einher mit der Verdichtung, dem Zusammenführen verschiedener Konflikte und darin ausgedrückter Interessen. Verdichtung braucht konkrete Utopien und die Abgrenzung von politischen Gegnern ebenso, wie Personen, die glaubhaft für eine bessere Politik und Welt stehen können: glaubwürdige Identifikationsfiguren im Alltag und auf der Bühne der großen Politik, den Populisten.
Ein Zurückweisen von Vereinfachungen und Verdichtungen als Mittel politischen Handelns und politischer Rhetorik jedoch meint im Kern die Ablehnung politischer Auseinandersetzung insgesamt. Es ist ein zutiefst entmündigender und damit undemokratischer Impuls. Tatsächlich kann man ein Gefühl dafür bekommen, dass die Mächtigen sich genau dies wünschen, wenn sie betonen, wie unerhört kompliziert doch die Sachverhalte und Zusammenhänge der politischen Welt seien – so kompliziert, dass nur Experten und Berufspolitiker sie verstünden.
Selbstverständlich: Linke Politik darf niemals bei diesem ersten Impuls stehen bleiben, muss vor allem entschiedene humanistische emanzipatorische Ideale verkörpern und verteidigen. Genau dies unterscheidet sie vom rechten Populismus: Denn kein rechter Populist in Europa käme auf die Idee sich für die Rechte von Geflüchteten einzusetzen. Die wettbewerbsfixierte AfD lässt Streikenden keine Unterstützung zukommen und nutzt die Verhandlungen um TTIP einzig dafür, einen kruden Antiamerikanismus aufzubauschen.
Man sollte auf der Linken also nicht vor dem häufig zu hörenden Argument kapitulieren, man mache durch seine Anklage der politischen Klasse gemeinsame Sache mit rechten Populisten. Was schließlich kann die inner- und außerparlamentarische politische Linke dafür, dass sich die Volksparteien, die FDP und auch Teile der Grünen von einer echten politischen Auseinandersetzung und einigen demokratischen Idealen verabschiedet haben?
David Bebnowski, Jahrgang 1984, hat Sozialwissenschaften in Göttingen und San Diego studiert und gehört zum Team des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung Berlin. Er promoviert im Promotionskolleg „Geschichte linker Politik in Deutschland“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Frage wie sich sozialtheoretische Bezüge in der deutschen Neuen Linken verändert haben und analysiert hierfür die Zeitschriften PROKLA und Das Argument. www.bebnowski.de
Thomas Goes hat Sozialwissenschaften in Oldenburg studiert und arbeitet als Sozialwissenschaftler mit Arbeitsschwerpunkten in Industrie- und Arbeitssoziologie, Arbeitsbeziehungen und Kapitalismusanalyse in Göttingen.
„Der Untersc0hied zwischen Links- und Rechtspopulismus ist enorm. Mögen rechte Populisten politische Eliten auch heftig als Establishment kritisieren, Wut und Hass richten sie gleichwohl auf Fremde und die Schwachen der Gesellschaft. Anders der linke Populismus, der von einem weitreichenden Solidaritätsbegriff ausgeht, die Kritik an politischen Eliten zum Anlass nimmt die weitere Demokratisierung der Gesellschaft zu fordern und „das Volk“ dazu auffordert treibende Kraft zu werden.“
-> Ganz so einfach und pauschal würde ich die Grenze zwischen Links- und Rechtspopulismus (mit Laclau) nicht ziehen wollen. Schließlich bringt auch der von rechten Populisten imaginierte Bedrohungskomplex aus nicht-zugehörigen Schädlingen und den Eliten, die diese Fremdlinge protegieren, ein ‚Wir‘ hervor, das neben neorassistischen, auch emanzipatorische Forderungen artikuliert (und ihnen eine neue Bedeutung verleiht). So ist es etwa der FPÖ oder der SVP, aber auch Marine Le Pen oder Geert Wilders gelungen, ‚linke‘ Kampfbegriffe und Kernforderungen (wie Widerstand, Selbstbestimmung, Gleichheits- und Freiheitsrechte) zu hegemonisieren und die sedimentierte links-rechts-Strukturierung der politischen Felder kulturalistisch umzukrempeln.
Aus meiner Sicht wäre es hilfreicher, zwischen einem emanzipatorischen, radikaldemokratischen Populismus und einem autoritären, essentialisierenden Populismus zu unterscheiden. Ersterer schützt seine leeren Signifikanten vor ultimativen Schließungen, um der heterogenen Äquivalenzkette (den „Subalternen“) eine Stimme zu geben, ohne deren Differenz in einer übergeordneten, transhistorischen Identität (Klasse, Ethnie, etc.) aufheben zu wollen. Zweiterer würde genau das Gegenteil anstreben und versuchen sowohl das ‚Wir‘ als auch das ‚Sie‘ (geschichtspolitisch oder klassenreduktionistisch) zu essentialisieren und den politischen Charakter dieser Grenze zu verschleiern, indem er eine ökonomisch, ethnisch oder sonst wie begründete Identität generiert, die alle Differenzen transzendiert.
Diese Unterscheidung (und nicht der Rekurs auf emanzipatorische Absichten und hehre Ideen) sollte m.E. einem linken Populismus informieren. Denn nur diese ‚politische Differenz‘ verlangt einem populistischen Diskurs ab, dass er seine Ausschlüsse präsent hält und die politische Legitimität des Nicht-Volkes anerkennt.
Verstehe ich das richtig? Nicht das Wie und die Kontur der Schließung (bei uns steht dafür der weite Solidaritätsbegriff), sondern das Ob der Schließung überhaupt wäre für Dich der Unterschied zwischen einem emanzipatorischen (wir sagen: linken) und autoritären (wir sagen: rechten) Populismus?
Was die Legitimität des Nicht-Volkes angeht: Das ist schwierig. Schnell können wir uns auf demokratisch-pluralistische Verfahrensweise einigen – was also den rechtstaatlichen Schutz von Menschen und ihre demokratischen Rechte mit einschließt. Das ist mir eine Selbstverständlichkeit.
Aber legitim ist eben nicht die soziale Stellung des Nicht-Volkes, etwa als Ausbeuter oder Unterdrücker (was etwa in den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie Ostdeutschland oft vorzufinden ist, das ist für mich harte Ausbeutung, nur um ein Beispiel zu geben).
Konkret: Ich persönlich – das muss nicht Davids Position sein – halte eine transformatorische Perspektive Macht- und Herrschaftsverhältnissen gegenüber heute immer noch für unerlässlichen Teil linker Politik – eine also, die nicht nur positive Reformen denk- und machbar macht (was wir bitter genug benötigen), sondern die Macht und Herrschaft abbauen will in unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Eine der größten Baustellen ist meines Erachtens die Neuerfindung von Wirtschaftsdemokratisierung. Die Demokratisierung der Wirtschaft aber geht – egal wie modernisiert – mit dem Abbau von Kapitalmacht, etwa in großen Oligopolbetrieben einher (wie gut das etwa auch der Effizienz eines Unternehmens tun könnte zeigt m.E. der aktuelle VW-Skandal). Das Nicht-Volk der Shareholder (oder das Marktvolk, wie Streeck sie pfiffig genannt hat) besitzt m.E. aber keine demokratische Legitimität. Ich möchte diese zu Gunsten einer entfalteten sozialen Demokratie gerne abschaffen, ganz demokratisch. Also: Keine Rechtfertigung.
Danke für den präzisierenden Kommentar. Der emanzipatorische und radikaldemokratische Populismus, ist natürlich das, was wir unter „linkem“ Populismus versammelt wissen wollen.