Seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland. Bei den gestrigen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen beteiligten sich in einigen Großstäten wie Essen, Oberhausen, Leverkusen oder Wuppertal deutlich unter 40 Prozent der Stimmberechtigten. Die Gruppe der Nichtwähler gewinnt wieder mal mehr Stimmen als jede Partei. Das ist mehr als alarmierend.
Aufgrund der Tendenz zu immer niedrigeren Wahlbeteiligungen haben CDU, CSU und SPD vor kurzem angekündigt, zusammen mit den anderen Parteien Konzepte gegen die sinkende Wahlbeteiligung erarbeiten zu wollen. Obwohl es lange überfällig ist, über den Zustand unserer Demokratie zu diskutieren und über Wege, sie wiederzubeleben, kommt es nur sehr selten zu einer parteiübergreifenden Initiative. Deshalb ist das Vorhaben als solches zu begrüßen. Die Vorschläge zeigen allerdings, wie hilflos oder ignorant die Vorstellungen der Initiator*innen sind. Nimmt man die sinkende Wahlbeteiligung und den eindeutigen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Wahlbeteiligung ernst, darf die Lösung nicht lauten: dass man die Wahllokale zwei Stunden länger öffnet. Natürlich kann man darüber nachdenken, den Bürgern das Wählen zu erleichtern, aber man sollte sich auch eingestehen, dass solche Maßnahmen die wahren Ursachen für Politikverdrossenheit, Frust und daraus resultierender Wahlmüdigkeit außer Acht lassen.
Laut einer neuen Studie glauben 61 Prozent der Deutschen, dass sie nicht mehr in einer richtigen Demokratie leben[1]. Angesichts solcher Zahlen müsste es einen Aufschrei im Land geben. Jedem Demokraten müsste der Ernst der Lage bewusst sein. Jauch, Illner und Co. müssten Runde um Runde die Volksvertreter bedrängen, darauf zu reagieren. Aber nichts dergleichen passiert. Und die spärlichen Vorschläge der Parteien zeigen nur, wie wenig ernst sie das Thema nehmen – Politik und Medien gleichermaßen.
Was wir hier erleben, ist eine tiefgreifende, demokratische Krise. Wohin sie führen kann, beobachten wir in anderen europäischen Ländern: politische Konstellationen und Parteien erodieren, Profiteure sind nicht selten neue, populistische Parteien. Pegida und Co. könnten nur ein Vorgeschmack sein auf das, was uns noch bevorsteht.
Wir sind sehr besorgt darüber, dass es in unserem Land einen Zusammenhang gibt zwischen sozialem Status und demokratischer Teilhabe. Es ist ein Thema, das wir endlich verstärkt in den Blick nehmen müssen. Wir wollen dies tun und Vorschläge für eine Belebung und Weiterentwicklung der Demokratie sammeln. Es bedarf aber auch einer ehrlichen Analyse. Die Debatte wird unbequem, sie braucht ungewöhnliche und utopische Forderungen, denn vor allem darf es keine Denkverbote geben.
Unsere konkreten Vorschläge:
- Mehr direkte Demokratie: Wir plädieren für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie auch auf Bundesebene, z.B. die Möglichkeit bundesweiter Volksentscheide.
- Mehr Transparenz und weniger Lobbyismus: Wir sind der Überzeugung, dass die Politik deutlich transparenter werden muss und der Einfluss einiger finanzstarker Lobbyisten im Interesse des Gemeinwohls eingeschränkt werden muss. Wir fordern daher beispielsweiseein verbindliches Lobbyregister, die vollständige Offenlegung der Nebeneinkünfte von Abgeordneten, eine wirkungsvolle Karenzzeit und eine legislative Fußspur (d.h. dass bei Gesetzen dokumentiert wird, wer daran mitgearbeitet hat).
- Lebendige Parlamente: Auch die leblosen Debatten in den Parlamenten führen dazu, dass immer mehr Menschen das Interesse an Politik verlieren. Wir glauben, dass man dem mit einer radikalen Reformierung der Debattenkultur im Bundestag begegnen kann. In der Fragestunde müssen Minister*innen und Kanzler*in anwesend sein und zu allen aktuellen Themen Rede und Antwort stehen. Debatten im Bundestag müssen grundsätzlich im Fernsehen übertragen werden. Daneben muss man die Ausschüsse aufwerten, indem man diese generell öffentlich abhält und die Sitzungen im Internet überträgt. Öffentliche Anhörungen dürfen nicht nur mit von den Fraktionen geladenen Experten durchgeführt werden. Anstelle dessen sollten z.B. Initiator*innen von Petitionen an den Bundestag, die eine gewisse Anzahl von Unterstützer*innen gewonnen haben, bei Anhörungen Rederecht bekommen.
- Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass: Wir finden, wer dauerhaft in Deutschland lebt, muss auch wählen dürfen – egal welchen Pass er oder sie hat.
- Enquete-Kommission: Das Thema der niedrigen Wahlbeteiligung ist so wichtig, dass im Bundestag eine Enquete-Kommission zur Wiederbelebung der Demokratie gegründet werden müsste. Dabei darf es keine Denkverbote geben und müssen auch drastische Möglichkeiten diskutiert werden. Ideen wären beispielsweise die Wahlpflicht, aber auch die teilweise Nicht-Besetzung von Parlamentssitzen bei niedriger Wahlbeteiligung, wodurch symbolisiert würde, dass die Nichtwähler immer häufiger die größte Partei darstellen. Dazu wollen wir noch einen konkreten Vorschlag erarbeiten. Wir sind der Überzeugung, dass man in Bezug auf die Wahlbeteiligung neue, kreative Wege gehen muss.
Wir erheben mit unseren hier gestellten Forderungen nicht den Anspruch auf unumstößliche Lösungen. Wir wollen vor allem eine Diskussion anstoßen und dazu anregen, kreativ über die Zukunft unserer Demokratie nachzudenken. Diesen Prozess wollen wir in der nächsten Zeit auf www.demokratie-plus.de gerne gestalten und begleiten.
Marco Bülow
Anke Domscheit-Berg
Gregor Hackmack
Nicol Ljubić
Jagoda Marinić
Anne Straube
[1] In: Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder: Gegen Staat und Kapital. Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie. Frankfurt a. M., 2015.
Was mir gefiel: „Die wahren Ursachen für Politikverdrossenheit, Frust und daraus resultierende Wahlmüdigkeit“ ins Visier zu nehmen.“
Und auch die Einsicht: „Es bedarf auch einer ehrlichen Analyse.“
Nun sollte zunächst die Analyse folgen und dann die Vorschläge zur „Belebung und Weiterentwicklung der Demokratie“.
Eher kosmetische Vorschläge folgten, um das Problem zu lösen – doch wo ist die Analyse?
Denkverbote soll es nicht geben. Sehr gut!
Nun habe ich in meinen Kommentaren zu Marco Bülow’s Artikel „Käseglocke oder lebendige Volksvertretung?“ essentielle Schwächen unseres demokratischen Systems aufgezeigt, die seit Jahrzehnten und bis zum heutigen Tag in Fehlentscheidungen unserer demokratischen Regierungen münden, die mitunter extrem negative Auswirkungen haben. Und ich habe Lösungsansätze vorgeschlagen. Doch blieb es hier leider beim Monolog. Auf eine Diskussion wollte sich die Gruppe „Demokratie+“ nicht einlassen.
Es ist eben NICHT alles gut, wenn ein Volk in freien und geheimen Wahlen an die Urne geht.
Das geschieht gerade in Griechenland und es scheint möglich, dass das Volk wieder die alte konservative Regierung an die Macht wählt, die für die katastrophale wirtschaftliche Lage des Staates verantwortlich ist.
Es geht eben nicht vordergründig um die Wahlbeteiligung. Die könnte in Griechenland bei 90% liegen – und dennoch wäre ein Wahlausgang für die Konservativen kein Grund zum Feiern.
Was nutzt uns unsere Demokratie in Deutschland, wenn nicht Vernunft regiert, sondern eine Person, die Kraft ihres Amtes entscheiden kann, welches Signal sie – bzw. unser Land – an die Flüchtlinge im Nahen Osten und in Afrika senden will.
Manchmal habe ich den Eindruck, wir leben in einem Königreich, in dem die Königin allein entscheidet, wohin die Reise gehen soll.
Auch den Menschen in westlichen Demokratien geht es nicht anders. So hat der japanische Ministerpräsident gerade gegen alle Vernunft und den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt, dass das Land künftig auch dann kriegerisch im Ausland tätig werden kann, wenn Japan gar nicht bedroht wird.
Und wer weiß, wie im kommenden Jahr der König im Weißen Haus regieren wird, den die Amerikaner ins Amt wählen werden.
Donald Trump lag weit vorn, wie wir lesen. Ja würde es denn die Gruppe Demokratie+ als großen Sieg der Demokratie feiern, wenn Donald Trump bei den kommenden Wahlen bei einer Wahlbeteiligung von 90% eine satte Mehrheit erzielen wird?
Ein Vorschlag der Gruppe ist, bundesweite Volksentscheide einzuführen.
Das hat natürlich den großen Vorteil, dass Entscheide dann demokratisch legitimiert sind. Und das Volk hat das Gefühl, mitbestimmen zu können. (Jedenfalls bei einem Promille aller Entscheidungen).
Doch ist nicht die Frage wichtiger, ob am Ende eine kluge Entscheidung bei heraus kommt?
Selten hatte die Bevölkerung eines Bundeslandes mehr Gelegenheit, sich im Detail über einen Sachverhalt zu informieren als bei Stuttgart 21.
Und was kam am Ende dabei heraus?
Ganz bestimmt hat sich die überwiegende Mehrheit der voll informierten Bürger gegen den Bau eines neuen Bahnhofs entschieden. Doch was nutzt es, wenn diese informierten Bürger nur eine Minderheit im Lande sind?
Wenn sich die ganze Zeit über die BILD für den Bau ausspricht und so die Meinung der riesigen Leserschaft „bildet“, sind die Würfel gefallen.
Gregor Hackmack setzt sich seit vielen Jahren für bundesweite Volksentscheide ein. Allein das verbietet ihm doch, das Thema einmal nüchtern zu betrachten. Eine Kehrtwende kann er nicht machen. Wer würde ihn noch ernst nehmen?
Also wird er diesbezüglich einem Denkverbot folgen und bei jeder Kritik an Volksentscheiden gleich nach Gegenargumenten suchen.
Und nicht viel anders geht es anderen, die mit unserem politischen System „verheiratet“ sind. Sie können sich gedanklich nicht einmal außerhalb ihres Systems stellen und dies kritisch beleuchten.
Wenn es noch nicht einmal die Menschen, die die Bewegung Demokratie+ ins Leben gerufen haben, schaffen, ohne Scheuklappen zu denken und die Situation zu analysieren und sich auch mal auf eine „unbequeme“ Diskussion einzulassen – wie soll sich dann etwas in unserem Land ändern?
Wie bitte sollen wir dann eines Tages zu einer Regierung kommen, die klug handelt.
„Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden“, sagte Altbundeskanzler Helmut Schmidt.
Da sollten doch eigentlich die Alarmglocken läuten, denn wer möchte schon, dass ‚dumme Regierungen‘ uns und unsere Kinder in die Zukunft führen.
Doch da läutet nichts.
Wir sind nur am durchaus berechtigten Kritisieren der Regierung(en).
Das war’s dann.
Auch so: Natürlich demonstrieren wir auch und schreiben Petitionen ohne Ende.
Haben wir in den vergangenen dreißig Jahren die Erfahrung gemacht, dass dies die gewünschten Änderungen hervorbringt?
Nein.
Und dennoch verhalten wir uns so, als gäbe es zu diesen unerfolgreichen Maßnahmen keine Alternative.
Sind wir noch ein Land der Dichter und Denker?
Ja, es wird viel gedichtet. Und es wird auch viel gedacht, wenn es beispielsweise um technische Innovationen geht.
Doch was unser politisches System betrifft, da haben wir alle miteinander irgendwie ein Brett vor dem Kopf, hervorgerufen durch einen weißen Fleck.
Und der wird hier sehr gut beschrieben: „You can’t read the label of the jar you’re in.“ http://www.gapingvoidart.com/gallery/jar/
Ich gebe es auf, mich zu bemühen, uns von diesem weißen Fleck zu befreien.
Mit weißem Fleck allerdings werden wir Menschheit unaufhaltsam in eine sehr düstere Zukunft hinein tapsen.
Schade eigentlich.
Dann bleibt mir nur, viel Erfolg beim „Retten der Demokratie“ zu wünschen, auf dass Ihr die Wahlbeteiligung um zehn Prozent, vielleicht sogar zwanzig, anheben könnt.
Schade um die viele Mühe, die Ihr Euch macht. Denn Eure Zielsetzung geht leider am eigentlichen Ziel vorbei, das für das Leben künftiger Generationen überlebenswichtig sein wird.
Werden es Eure Kinder später danken, wenn Ihr es fertig gebracht habt, das Vertrauen der Bevölkerung in ein politisches System wieder herzustellen, das das Vertrauen des Volkes gar nicht verdient?
Werden sie Euch nicht vielmehr dafür feiern, wenn Ihr es fertig bringt, KLUG handelnde Regierungen hervorzubringen?