Wie bringen wir unsere Demokratie näher an die Bürger*innen?
Ist nur die direkte Demokratie, die verbindliche Entscheidung der Bürgerschaft, eine echte „Politik des Gehört Werdens“? Oder sind es Verfahren der Beteiligung, die Bürger mitsprechen lassen, aber am Ende die Entscheidung bei den gewählten Vertreter*innen belassen, die eine gute Demokratie maßgeblich auszeichnen? In der gesellschaftlichen Diskussion haben sich diese beiden Pole so sehr als Gegensätze manifestiert, dass ihre Beziehung zueinander aus dem Blickfeld gerät. Dabei liegt in ihr der entscheidende Erkenntnisschritt: die unverbindliche Bürgerbeteiligung braucht eine starke direkte Demokratie, damit sie nicht das bleibt, was sie noch allzu oft ist – eine Alibiveranstaltung zur Beruhigung angeblicher Wutbürger*innen.
Mit starker direkter Demokratie ist nicht gemeint, dass zukünftig die Hälfte der Entscheidungen von den Bürger*innen selbst getroffen werden soll. Das wäre in der Realität völlig impraktikabel. Die direkte Demokratie ist und bleibt immer ein Ausnahmefall aus statistischer Sicht. Das heißt, selbst in der Schweiz, wo sie in großem Ausmaß praktiziert wird, werden immer noch über 97 Prozent aller Entscheidungen von den Parlamenten getroffen. Es ist nicht die Aufgabe der direkten Demokratie gleichzuziehen mit der parlamentarischen Demokratie. Es ist ihre Aufgabe, die Bürger*innen als Akteur auf Augenhöhe mit den Politiker*innen und auch der Verwaltung zu bringen. Die These ist: Erst wenn die Verfahren der direkten Demokratie in den Verfassungen – also in den Gemeindeordnungen, in den Landesverfassungen und auch im Grundgesetz – fair und für die Bürger*innen handhabbar geregelt werden, erst dann werden die naturgemäß von Politik und Verwaltung dominierten Beteiligungsverfahren mit der notwendigen Offenheit und Kompromissbereitschaft geführt. Erst wenn alle Beteiligten wissen, dass die Bürger*innen im Zweifelsfall auf die direkte Demokratie zurückgreifen können, wird ernsthaft versucht mit geeigneten Methoden die Bedürfnisse der Bürger*innen herauszufinden und sie dann auch zu berücksichtigen. So verlieren Beteiligungsverfahren notwendigerweise ihren Alibicharakter. Die pure Existenz der anwendbaren direkten Demokratie verhilft also den Bürgern in eine Position auch bei heiklen Themen wirksame Beteiligung einzufordern, also dort wo sie bisher als störend empfunden und deswegen eher vermieden wird.
Doch Vorsicht: nicht alle Fragen können durch Beteiligungsverfahren, auch noch so gute, gelöst werden. Manchmal bleiben Positionen unversöhnlich. Wie etwa bei sehr grundsätzlichen Entscheidungen, zum Beispiel der Privatisierung der Strom- oder Wasserversorgung. Oder auch bei umfassenden Projekten der Stadtentwicklung, die eine Kommune über die nächsten Jahrzehnte entscheidend prägen. In der Schweiz zum Beispiel, wäre es undenkbar gewesen, auch nach einem umfassenden Beteiligungsverfahren, zu einem Großprojekt wie „Stuttgart 21“ nicht den Rückhalt in der Bevölkerung sicherzustellen. Mit dem großen Unterschied, dass man nicht zu einem Zeitpunkt abgestimmt hätte, an welchem Summen bis zu 5 Milliarden potenzieller Ausstiegskosten eine neutrale Entscheidung so gut wie unmöglich machen. Und dabei noch ein Verfahren angewandt wird, welches durch die unrealistische Hürde eines 33 Prozent- Zustimmungsquorums einseitig den Status Quo bevorteilt und verhindern kann, dass am Ende der Wille der Mehrheit zählt.
In diesen Fällen ist ein Bürger- oder Volksentscheid kein Betriebsunfall. Vielmehr ist er ein legitimes und, wenn in einem fairen Prozess angewandt, oft befriedendes Mittel demokratischer Entscheidungsfindung, das vom Gemeinderat wie von der Bürgerschaft genutzt werden kann.
Reformen der direkten Demokratie als Fundament des Kulturwandels
Wird dieser Zusammenhang zwischen direkter Demokratie und Beteiligungsverfahren anerkannt, wird deutlich, dass Reformen für eine fair gestaltete direkte Demokratie das Fundament darstellen, für einen ernstgemeinten Kulturwandel hin zur Beteiligungsdemokratie.
In vielen Bundesländern sind Reformschritte geplant. Doch reichen sie meist noch nicht aus, um das beschriebene Machtgleichgewicht der Augenhöhe herzustellen. Die Gründe für die Zaghaftigkeit der Reformen sind vielfältig. Oft herrschen in den Parteien selbst noch große Bedenken vor. Man hat Angst Entscheidungsbefugnisse – auch wenn es nur wenige Entscheidungen betrifft- abzugeben, die Kontrolle zu verlieren. Das gilt für eher mitterechtsorientierte Parteien genauso wie für linksorientierte Parteien. Die Letzteren sind in der Praxis zwar durchaus stärkere Befürworter der direkten Demokratie, haben aber natürlich auch (durchaus berechtigte) Ängste, dass ihre Positionen von den Mehrheiten in Volksabstimmungen oft nicht mitgetragen werden. Doch diese Ängste auch mal inhaltlich den Kürzeren zu ziehen, verkennen völlig den Mehrwert einer direktdemokratischen Abstimmung für die demokratische Kultur: der Moment der Aufforderung an jeden einzelnen Staatsbürger und jede Staatsbürgerin sich zu informieren, sich eine Meinung zu bilden, dann an der Urne verbindlich mitzuentscheiden und damit Verantwortung mitzutragen, re-affirmiert unser Empfinden lebendiger Teil einer gestaltbaren Demokratie zu sein. Das Vertrauen der Menschen darin zu stärken, dass diese Demokratie durch sie gestaltbar ist und sie damit wieder zu aktivieren in ihrem Interesse für Politik an sich, ist ein wertvolleres Gut als die konkrete politische Entscheidung in einer Sachfrage, die ja auch immer wieder revidierbar ist.
Doch ein ebenso entscheidender Grund für die zögerlichen mutlosen Reformvorhaben vieler (Landes)Regierungen ist der Fehler, sich bei diesem zentralen Demokratiethema einzulassen, auf Parteiverhandlungen im stillen Hinterzimmer. Durch diese Entscheidung wird die große Chance verpasst eine lebendige, ja eine aufwühlende Debatte zur Demokratie, ihren Mängeln und ihren Perspektiven in unserer Gesellschaft mit all ihren zivilgesellschaftlichen Akteuren anzustoßen. Mutig, mit guten Konzepten und so dezentral wie möglich geführt, kann eine solche Demokratie-Debatte eine demokratische Aufbruchsstimmung generieren, wie sie in der Hochzeit der „Stuttgart 21“- Bewegung so greifbar war.
Doch nicht nur auf diesen Schwung und die Ideen der Bürger*innen wird oft verzichtet, durch die fehlende Öffentlichkeit geht auch völlig unter, wer die wahren Gegenspieler einer demokratischen Öffnung und Weiterentwicklung sind. Warum fordert man die vielen Bürgermeister, vor allem aber die kommunalen Vertreterorgane, die deutschen Gemeinde- und Städtetage nicht auf, in öffentlichen Veranstaltungen ihre Positionen offensiv zu vertreten? Warum fordert man sie nicht auf, den Bürger*innen von Angesicht zu Angesicht zu sagen, dass ihrer Meinung nach die Demokratie im Lande optimal funktioniere, dass Deutschland reich sei, gut da stehe und daher offensichtlich gut gefahren sei, mit der bisherigen Bastapolitik. Warum fordert man sie nicht auf, offen zu erklären, dass sie keinerlei Änderungsbedarf für die Gemeindeordnungen sehen, nicht bei der direkten Demokratie, nicht bei der Stärkung von Minderheitenrechten, nicht bei der stärkeren Beteiligung von Jugendlichen, nicht bei der Transparenz in der kommunalen Politik?
Erst wenn wir anfangen ernsthaft unsere Einschätzungen zur Lage und zu Perspektiven der Demokratie in Diskussionen vor Ort offenzulegen, können wir aufeinander zugehen, Vorurteile abbauen und Ängste ernst nehmen. Vorurteile wie etwa die Sorge, dass niemand mehr investieren wird, wenn die Bauleitplanung vollständig für Bürgerbegehren geöffnet wird. Ein Blick nach Bayern genügt: dort können die Bürger seit Jahrzehnten bis zum Abschluss der Bauleitplanung ein Bauprojekt noch durch einen Bürgerentscheid stoppen. Von einer Investorenflucht ist nichts bekannt.
Mehr Beteiligung als Chance zur Re-Politisierung von Politik
Genauso wichtig aber ist die Thematisierung der Ängste, die auch bei so manchem Gemeinderatsmitglied nicht unerheblich sind. Eine breite öffentliche Diskussion ist daher wichtig, um auch die Chancen der Reformen für eine Re-Politisierung von (Kommunal-)Politik in den Vordergrund zu rücken. Der baden-württembergische Gemeindetag klagt, dass es immer schwieriger werde Bürger*innen zu finden, die bereit sind für den Gemeinderat zu kandidieren, mehr Bürgerbeteiligung mache ein solches Amt noch unattraktiver, weil der Gemeinderat an Autonomie verliere. Das Gegenteil ist der Fall: Mehr Beteiligung und mehr politische Diskussion grade zu den umstrittenen Themen vor Ort, können gerade dazu führen, dass wieder mehr Menschen Interesse entwickeln an kommunalen Entscheidungen und wieder besser verstehen wie diese Entscheidungen sich auf ihren Alltag auswirken. Immer wieder erleben wir zum Beispiel, dass Bürger*innen, die eine Bürgerinitiative gestartet haben, bei der nächsten Wahl für den Gemeinderat kandidieren, weil sie sozusagen „auf den Geschmack“ gekommen sind.
Bringschuld der Politik oder Holschuld der Bürger*innen?
In einer breiten öffentlichen Diskussion würde aber vielleicht auch deutlich werden, dass viele Bürgermeister*innen enttäuscht sind, wie wenige Bürger*innen ihre bisherigen Beteiligungsangebote annehmen. Sicher haben einige Bürger nach schlechten Erfahrungen die Hoffnung verloren, dass sich Beteiligung lohnt, trotzdem stellt sich hier auch die Frage nach der Holschuld der Bürgerschaft. In Baden-Württemberg gab es 2014 in 1101 Gemeinden grade mal 6 Bürgerentscheide. Das liegt mit Sicherheit an den hohen geltenden Hürden, aber auch daran, dass viele Bürger*innen gar nicht wissen, wie sie sich einbringen können oder schlichtweg die Einfluss- Kanäle nicht nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen.
Die Frage der Bringschuld der Politik und der Holschuld der Bürger*innen beim Thema Beteiligung ist eine hochsensible. In verschiedensten Umfragen ist zu lesen die Zufriedenheit mit der Demokratie (nicht mit der Politik!) steige kontinuierlich an. Doch darf die Politik sich zufriedengeben, wenn die Bürger sagen „Ja, wir wurden gerne hin und wieder mal direkt entscheiden und wollen auch mehr einbezogen werden, aber im Prinzip sind wir zufrieden damit, die Verantwortung an euch abzutreten“? Was sagen uns bundesweit sinkende Wahlbeteiligungen? Wie schnell wird Zufriedenheit zu einem Deckmantel für Desinteresse?
Wenn wir es ernst meinen mit einer Demokratie der Beteiligung, ist es Aufgabe der Politik die Rahmenbedingungen zu setzen: Faire (direkte) Beteiligungsverfahren in den Verfassungen, breite Informationsfreiheits- und Transparenzgesetzgebung, Bereitstellung der notwendigen Ressourcen für Beteiligung, Training der Verwaltungen im Umgang mit Beteiligung und einen Perspektivwandel bei Politik und Verwaltung dahingehend Beteiligung als Chance und als unverzichtbaren Bestandteil einer modernen Bürgerdemokratie anzuerkennen. Doch auch die Bürgerschaft muss viel stärker als bisher für Beteiligung gerüstet werden. Was geben wir denn den Kindern in den Kitas und Kindergärten an Selbstwirksamkeitserfahrungen mit auf den Weg? Lernen wir von klein auf, was es bedeutet an Entscheidungen beteiligt zu werden, das (Bürger-)Recht zu haben mitzuentscheiden? Lernen wir an den Schulen, welche Beteiligungsarten es gibt und schauen wir uns im Gemeinderat an, wie unsere Demokratie in der Realität funktioniert? Lernen wir mit der heutigen Medienvielfalt umzugehen und wie es trotzdem oder gerade deswegen möglich ist, sich eine gut begründete Meinung auch zu komplexen politischen Themen zu bilden? Lernen wir an den Universitäten Argumente nachvollziehbar zu formulieren, anderen wirklich zu zuhören und damit in der Lage zu bleiben, unsere Meinung stetig weiterzuentwickeln und tragfähige Kompromisse zu schließen?
Die Zivilgesellschaft will und muss mehr Verantwortung für Politik übernehmen
Diese Fragen führen natürlich sehr weit. Tatsache ist: in einer Demokratie darf die Zivilgesellschaft die Politiker*innen nicht alleine lassen. Dass die Zivilgesellschaft dringend ihre Kontrollfunktion wieder mehr wahrnehmen muss, können wir grade in Reinform am TTIP sehen, wo eine Problematisierung unzähliger Aspekte -der unsägliche Investorenschutz ist nur ein Beispiel- undenkbar wäre, ohne die Fachkompetenz und Organisationskraft der Zivilgesellschaft. Soll die Zivilgesellschaft diese Kontroll- und Anstoßfunktion wahrnehmen und mehr Verantwortung für Politik mittragen, müssen mehr Zugänge in die Politik geschaffen werden, direkter und deliberativer Art und das auf allen Ebenen. Ohne Zweifel werden dadurch politische Prozesse für alle Beteiligten- Politik, Verwaltung und Bürgerschaft- anstrengender. Doch zu gewinnen gibt es eine Demokratie, die angesichts riesiger globaler Herausforderungen in der Lage ist, Lösungen zu entwickeln, die die Bedürfnisse vieler im Blick hat und nicht wie heute so oft der Fall, einiger weniger.
Sarah Händel (31) studierte Politik und Verwaltung mit anschließendem Master in Friedensforschung und arbeitet seit 2011 bei Mehr Demokratie e.V., ist seit 2014 Landesgeschäftsführerin von Mehr Demokratie Baden-Württemberg und Mitglied im Bundesvorstand. Mehr Demokratie ist ein überparteilicher und gemeinnütziger Verein, der sich seit 25 Jahren bundesweit für die Weiterentwicklung der Demokratie durch Elemente der direkten Demokratie, Transparenzgesetzgebung und mehr Einfluss der Bürger*innen bei den Wahlen einsetzt. Der Landesverband macht sich stark für die Senkung der Hürden der direkten Demokratie in Baden-Württemberg und berät Bürgerinitiativen auf dem oft noch steinigen Weg zum Bürgerentscheid. Mehr Demokratie ist, zusammen mit anderen, treibende Kraft hinter der europäischen Bürgerinitiative „STOPP TTIP“, um die dort geplanten Einschränkungen demokratischer Handlungsspielräume zu verhindern und auf die Demokratiedefizite in der EU aufmerksam zu machen. Weitere Informationen unter: www.mitentscheiden.de und www.mehr-demokratie.de.