Fraktionszwang und Ochsentour

Anke Domscheit-Berg 1Fraktionszwang und Ochsentour – das sind beides Begriffe, die schon negativ klingen. Und Nomen est Omen, denn für mich stehen diese beiden Wörter im Widerspruch zu einer Demokratie, die den hohen Ansprüchen, die an sie gerichtet werden, gerecht wird.

Das Grundgesetz ist in der Sache eindeutig, Fraktionszwang ist verboten: Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes besagt: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Aber wer mal ein paar Stunden Parlamentsfernsehen angeschaut hat oder anderweitig Einblick in den Parlamentsbetrieb erhielt, der stellt schnell fest, dass Ergebnisse bei Abstimmungen fast ausschließlich nach folgendem Schema F verkündet werden: „die Fraktionen mit den Farben X und Y stimmen dafür, die Fraktionen mit den Farben A und B dagegen“.

In der Bundestagsgeschäftsordnung gibt es ebenfalls keine Vorgabe zum Abstimmverhalten nach Fraktionszugehörigkeit, aber auch ungeschriebene Regeln können stark sein. Spätestens im Koalitionsvertrag findet sich meist doch ein Hinweis darauf, dass „wechselnde Mehrheiten“ nicht vorgesehen seien. Auch die Arbeitsordnung der CDU/CSU-Fraktion sieht etwa vor, dass eine „abweichende Abstimmungsabsicht vorher mitgeteilt werden muss“ – vermutlich nicht, weil die Anmelderin einer solchen Absicht dazu ermutigt wird, zu ihrer abweichenden Meinung zu stehen. Aber die Schriftform ist nicht einmal nötig, das zeigt das gleichartige Stimmverhalten auch oppositioneller Fraktionen.

Bei aller Freiheit, die das Grundgesetz Abgeordneten einräumt, bleibt die normative Kraft des Faktischen bestehen – und Fakt ist ein Alltag, in dem das Abstimmverhalten der Volksvertreter*innen schon vorab fest steht. Abweichlern droht sozialer Druck, offene Kritik, der Entzug von Redegelegenheiten und handfeste Sanktionen spätestens dann, wenn es um die nächste Vergabe von Listenplätzen oder anderweitig interessanten Parteiposten geht. Auch wenn abweichendes Stimmverhalten nicht direkt als Grund für Missliebigkeit benannt wird, karriereorientierte Politiker*innen verstehen das System auch so und verhalten sich entsprechend. Abweichende Meinungen zu sanktionieren ist jedoch etwas, das ich in der DDR zur Genüge kennengelernt habe. Auch wenn man die Systeme nicht vergleichen kann, so war doch meine Erwartung an eine echte Demokratie an die Zulassung abweichender Meinungen gerade im Politikbetrieb geknüpft. Ich meine damit nicht das Grundrecht auf Meinungsfreiheit Einzelner und auch nicht die Zulassung von Parteien unterschiedlicher Richtungen, sondern eben auch die echte Freiheit von Abgeordneten, sich ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet zu fühlen bei ihrer Stimmabgabe in einem Parlament.

Schon bei der klassischen Meinungsfreiheit haben deutsche Gerichte geurteilt, dass sie selbst dann nicht mehr gegeben ist, wenn jemand eine Meinung nicht mehr äußert, weil er oder sie Sanktionen befürchtet. Sanktionen beginnen nicht bei einem Rausschmiss aus der Fraktion, der bekanntlich nicht so einfach zu erreichen ist, sondern funktionieren auch subtiler – durch den Einsatz multipler Filter, die die politische Zukunft einer Politiker*in wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich sein lassen. Und hier verbinden sich die Verhaltensmuster des Fraktionszwangs mit der Funktionsweise der Ochsentour. Nur wer sich unterordnet, hat in der Ochsentour Erfolg. Dass das nicht leicht ist, sagt ja schon der Begriff. Es geht um schwere Arbeit, das Unterdrücken der eigenen Willensbildung. Besonders bei einem starken Willen ist das sogar Schwerstarbeit. Manche scheitern daran. Nur die echten Ochsen kommen durch.

Dass der Fraktionszwangs existiert, merkt man spätestens dann, wenn zum Beispiel die ZEIT unwidersprochen titelt: „Unionsfrauen lehnen Fraktionszwang bei Votum zu Frauenquote ab“. Der Hintergrund: In der CDU wollten die Befürworterinnen der Frauenquote durchsetzen, dass sie im Bundestag gegen die Parteilinie stimmen können. Die FDP dagegen verlangte laut ZEIT ein „Machtwort der Kanzlerin“. Der Spiegel schreibt „Unionsfrauen meutern gegen Fraktionszwang“ und auch bei der Tagesschau gibt es dazu einen Bericht.

In jüngster Zeit häufen sich die emotional aufgeladenen Debatten zum Fraktionszwang, besonders dann, wenn es um stark polarisierende Themen geht, häufig aus dem Feld der Geschlechter- und Familienpolitik. Dazu zählt aktuell neben der Frauenquote auch das Betreuungsgeld. Es bestehen keine Zweifel daran, dass es bei einer reinen Gewissensentscheidung zu anderen Ergebnissen als den erlebten gekommen wäre – die Quote hätte vermutlich eine Mehrheit, das Betreuungsgeld jedoch eine Ablehnung erhalten.

Nur selten wird ganz offiziell der Fraktionszwang, genannt Fraktionsdisziplin, aufgehoben und den Parlamentarier*innen mitgeteilt, dass sie in diesem ganz speziellen Ausnahmefall allein nach ihrem Wissen und Gewissen abstimmen dürfen. Man erlaubt also explizit, was nach dem Grundgesetz die einzige Art sein sollte, Politik im Bundestag zu machen. Im Übrigen geht es auch bei diesen Ausnahmen häufiger um Fragen, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau betreffen, etwa bei der Präimplantationsdiagnostik oder der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Warum das Gewissen der Abgeordneten nicht auch bei Eurokrisen, Afghanistaneinsätzen, bei der Energiewende, Hartz-Gesetzen, der Gleichstellung von Partnerschaften Homosexueller oder dem Asylrecht keine relevante Rolle spielen soll, erschließt sich mir nicht.

Die Verteidiger des Fraktionszwangs führen logisch klingende Gründe für ein Abstimmen im Herdentrieb an: Die Regierung soll schlagkräftig und arbeitsfähig bleiben, Politik muss verlässlich und vorhersagbar sein. Dennoch haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes etwas dabei gedacht, als sie Vorgaben zum Abstimmungsverhalten für Bundestagsabgeordnete unterbanden. Die negativen Effekte des Fraktionszwangs gleichen denen der Ochsentour sehr stark. Beide betreffen direkt Prozesse der politischen Willensbildung, also die Festlegung, WAS entschieden wird, WIE entschieden wird und WER entscheidet.

Über die Ochsentour macht man in den sogenannten Altparteien noch am ehesten Karriere, wenige Ausnahmen bestätigen die Regel. Vielleicht liegt es daran oder am hohen Durchschnittsalter der Mitglieder[1], dass man in den meisten Altparteien wenig junge Menschen in verantwortlichen Positionen antrifft. Seltsamerweise wirken selbst viele Jüngere, die es in Altparteien in die erste Reihe schaffen, als wären sie aus der Zeit gefallen. Sie scheinen älter als sie eigentlich sind. Ihr Auftreten, die Gestik, die Sprache – sie könnten mit ein wenig Schminke glaubwürdige Darsteller*innen ihrer eigenen Eltern sein. Die Selektion des politischen Nachwuchses erfolgt in den meisten Parteien nach dem Prinzip der homosozialen Reproduktion, also nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Diese Art der Auswahl begünstigt Elitenbildung und sogenannte Old Boys‘ Networks. Sie belohnt eine bestimmte soziale Herkunft und ein überdurchschnittliches Investment von Zeit und Energie in die Bildung eines guten Netzwerkes und uneingeschränkte Loyalität mehr als andere Kompetenzen. Es stellt sich berechtigt die Frage, ob es genau diese Eigenschaften sind, die man vorwiegend in Spitzenpositionen von Parteien sehen möchte. Die Negativauswahl von Zivilcourage, von Menschen, die sich für ihre Überzeugung auch mal gegen den Strom stellen, hat auch noch andere negative Effekte. Ich bin überzeugt davon, dass die Anfälligkeit eines politischen Apparates für alle Schattierungen von Korruption in dem Grad steigt, in dem die unglückliche Verbindung von Ochsentourkarrieren und Fraktionszwängen eigene Meinungen eliminiert und diejenigen erfolgreich werden lässt, die im Interesse ihrer politischen Karriere sogar die eigenen Überzeugungen verraten. Von dort ist es kein besonders großer Schritt mehr, auch andere Werte zu verraten, wenn es dem Eigennutz dient.

Durch die klassische Ochsentour schleift man Talente ab, allzu Aufmüpfige fallen dabei heraus. Abweichler*innen werden ebenso herausgefiltert wie allzu Junge, Frauen oder Menschen mit dem falschen Hintergrund – Migrant*innen etwa oder Menschen mit einer Arbeiterbiographie. Es ist auffallend, wie viel wahrscheinlicher als vor wenigen Jahrzehnten es heute ist, dass Beamte oder öffentliche Angestellte in den Bundestag kommen. Die Vielfalt der Lebenswege Abgeordneter hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Es ist kein Zufall, dass man über den Bundestag als Hort von Jurist*innen (23 Prozent), Lehrer*innen (zehn Prozent) und studierten Politolog*innen spottet. Zusammen machen sie fast 40 Prozent aller Abgeordneten aus. Unter den Top25-Berufen, die immerhin 442 der 613 Abgeordneten abbilden, findet sich kein einziger Arbeiterberuf[2].

Für die 16. Wahlperiode habe ich eine detaillierte Statistik gefunden, nach der über die Hälfte der Bundestagsmitglieder gelernte Politiker*innen, öffentliche Angestellte oder Beamte waren[3]. Eine typische Abgeordnete ist erst bei der Jugendorganisation und arbeitet sich dann von den Kreis- und Landesverbänden ihrer Partei hoch. Die aktuelle Abiturientenquote bei SPD, Union und FDP liegt bei über 80 Prozent – drei Mal so hoch wie der deutsche Durchschnitt. Einen Universitätsabschluss haben rund 70 Prozent der Parlamentarier*innen (2003)[4]. Keine Spur von Arbeiter*innen, nicht mal bei der SPD, der Arbeiterpartei. Keine auch nur annähernde Repräsentanz der Bevölkerung.

Mit dem heute so charakteristischen Karriereweg finden sich dann am Ende Volksvertreter*innen, die vom normalen Volk wenig Ahnung haben, weil sie nie einen eher durchschnittlichen Beruf ausübten, nicht Metallfacharbeiterin oder Kindergärtner waren, nicht Altenpfleger und nicht Landwirtin. Fast alle kommen aus dem Bildungsbürgertum und sind mit dem Bildungsbürgertum verheiratet, verschwägert und vernetzt. Sie verstehen nicht besonders viel von dem Alltag und den Nöten einfacher Arbeiterinnen und Angestellter, geschweige denn von prekär Beschäftigten im Dienstleistungssektor oder vom Alltag eines Hartz-4-Empfängers.

Kluge Köpfe haben herausgefunden, dass der Wert von Diversity – also der Vielfalt einer Gruppe – umso wichtiger ist, je komplexer eine Aufgabenstellung ist. Mit anderen Worten, am Fließband Teile zusammenschrauben geht auch gut mit einer homogenen Gruppe. Aber Eurokrise, Bildungsungerechtigkeit, demographischer Wandel, die Veränderungen, die eine digitale Gesellschaft mit sich bringt, die Globalisierung und der Klimawandel und viele andere Probleme auch, mit denen sich heute Politik herumschlagen muss, sind alles andere als einfach gestrickt. Das sind Herausforderungen, die an Komplexität kaum zu steigern sind. Genau deshalb braucht es dafür Vielfalt, neue Ideen, und viel mehr Mut für neue Wege.

Diesen Mut vermisse ich. Und ich vermisse ein Gespür für die Zukunft, das vielleicht am ehesten durch Impulse junger Abgeordneter eingebracht werden könnte. Die jüngste Debatte um das Leistungsschutzrecht zeigte diese Unfähigkeit zu einer modernen Sicht mindestens auf Seiten der Regierungskoalition eklatant. Bemerkenswert war dabei vor allem, dass sämtliche Jugendorganisationen aller Parteien sich verbündeten und gemeinsam eine Erklärung gegen das Leistungsschutzrecht veröffentlichten. Was heißt das für Parteien mit einem Durchschnittsalter zwischen 58 und 60, wenn ihre Jugendorganisationen sich offen gegen ihre Politik stellen? Was heißt das für die jüngeren Wählergenerationen, die sich zunehmend an den Kopf fassen und nicht mehr verstehen, was im Parlament für eine vergangenheitsbezogene Gesetzgebung passiert?

In meinen Augen ist es blanker Unsinn zu glauben, die Bürger*innen bevorzugten den Fraktionszwang, weil er ihnen eine verlässliche Politik garantiere. Wer in Deutschland will denn einen Kuhhandel, wie den um das Betreuungsgeld? Davon mal ganz abgesehen, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ohnehin kein Betreuungsgeld will. Der Zwang zum Fraktionszwang aber führt notwendigerweise zu einer Politik wie auf einem orientalischen Markt. Es zählen nicht die guten Argumente für eine politische Idee, sondern das Feilschen um Interessen. Das merkt auch die letzte Wählerin und ich kenne keine, die das gut heißt. Wie vermutlich die meisten Wähler*innen wähle ich eine Partei für ihr Wahlprogramm und die Direktkandidaten für ihr persönliches Profil und weil ich ihnen und ihrem Wertesystem mehr vertraue als ihren Konkurrent*innen.

Wenn dann sowohl Direktkandidat*in als auch die von mir gewählte Partei die von mir vertretenen Werte zugunsten eines solchen politischen Geschachers verrät, dann frustriert mich das nicht nur, es macht mich wütend. Weil es die Demokratie aushebelt und meinen Akt des Wählens entwertet. Was nützt meine Willensäußerung, wenn sie im Parlament keine echte Vertretung mehr hat? Was nützt einem Pazifisten die Wahl einer pazifistischen Partei, wenn diese einem Einsatz in Afghanistan zustimmt? Was nützt es einer Feministin, wenn sie extra die Direktkandidatin wählt, die sich immer und überall für die Frauenquote und gegen das Betreuungsgeld ausspricht, wenn die gleiche Person im Parlament doch anders herum abstimmt? Wie glaubwürdig ist eine solche Politik?

Mir ist völlig rätselhaft, wie jemand argumentieren kann, dass Lisa Normalbürgerin so eine Art Politik bevorzugt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die meisten Abgeordneten es gut finden, immer wieder gegen ihre Überzeugungen stimmen zu müssen. Es sind schließlich die Abgeordneten, die sich in ihren Wahlkreisen und gegenüber Journalist*innen und interessierten Bürger*innen rechtfertigen müssen, warum sie entgegen ihrer vorab geäußerten Überzeugung im Bundestag dann doch anders gestimmt haben. Das kratzt am Ego und an der Integrität einzelner. Es bröckelt damit schließlich auch das Vertrauen in die gewählten Volksvertreter*innen und Vertrauen ist nun mal die Währung der Politiker*innen auf dem Markt der Wählerstimmen.

Was ich mir daher wünsche, ist eine politische Kultur, in der mehr Vielfalt eine Chance hat. Eine Kultur, die Parlamente hervorbringt, in denen viel mehr junge Menschen und Menschen mit den unterschiedlichsten Biographien, Politiker*innen mit Charakter und starken eigenen Überzeugungen und Ideen sitzen, darunter jede Menge Quereinsteiger*innen und Politikneulinge, die mit frischem Mut kommen und sich an ihre Erfahrungen in der Welt da draußen noch sehr lebendig erinnern, weil sie noch nicht 100 Jahre zurückliegen. Diese Kultur sollte die Basis sein für eine wirklich freie Demokratie, in der alle Abgeordneten tatsächlich nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und Mehrheiten sich an der Sache entlang bilden, mal mit diesen Sachkoalitionen mal mit anderen – je nachdem, wie die Wertesysteme der Abgeordneten so sind.

Ich hätte kein Problem damit, wenn im Bundestag künftig Mehrheiten einmal anders verlesen werden, etwa so: „Der Antrag XYZ wurde angenommen mit einer Mehrheit von 385 Stimmen von Abgeordneten der Fraktionen A, B und C. Dagegen stimmten 122 Abgeordnete aus der Fraktionen A, C und D. Jede Abstimmung könnte gern namentlich erfolgen und damit auch sehr viel mehr Transparenz über das politische Handeln meiner gewählten Abgeordneten ermöglichen.

Ich glaube, diese Art von Demokratie wäre ein wirkliches Upgrade und viel dichter dran an dem, was den Autor*innen unseres Grundgesetzes einmal vorschwebte. Sie würde ehrlicher sein und offener und hätte vermutlich ein deutlich höheres Problemlösungspotenzial als unser starres System, das mir so vorkommt, als diene es vor allem dem Selbsterhalt. Wenn Abstimmungen damit weniger vorhersagbar würden, hätte ich damit auch kein Problem, denn Prognosefähigkeit ist kein Wert an sich und in der Natur kann gerade das Chaos zu einem stabilen Gesamtsystem beitragen.

[1] Laut einer Statistik der FU Berlin lagen SPD, CDU und CSU 2010 bei 58 Jahren, die Linken kommen sogar auf 60 Jahre. Das Durchschnittsalter der Grünen beträgt 47 Jahre.

[2] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/36615/umfrage/berufe-der-bundestagsabgeordneten-16-wahlperiode/

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sozialstruktur-des-neuen-parlaments-maennlich-mittleren-alters-beamter-1277634.html

[4] http://www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/bundestagsabgeordnete-durchweg-akademiker-kaum-arbeiter-a-276032.html

Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Anke Domscheit-Bergs Buch „Mauern einreißen!: Weil ich glaube, dass wir die Welt verändern können“ (HEYNE Verlag).

2 Gedanken zu “Fraktionszwang und Ochsentour

  1. Ich kann der Autorin nicht folgen. In einer Demokratie ist es völlig legitim und vorgesehen, dass man Entscheidungsträgern seine Unterstützung entziehen kann, wenn man deren Kurs ablehnt. Das gilt im Verhältnis von Volk und Volksvertreter genauso wie im Verhältnis Fraktion und Abgeordneter.

    Wieso sollte eine Fraktion einen Abgeordneten unterstützen und in Positionen wählen, wenn dieser die Fraktionslinie nicht unterstützt? Und wenn dieser die Fraktionslinie immer häufiger verlässt: Wieso sollte sie so einen unsolidarischen Abgeordneten, der offenbar vollends andere Vorstellungen von Politik hat, als die Fraktion, diesen überhaupt weiter als Mitglied dulden und von sich profitieren lassen?

    Es ist fraglich, wie die Autorin ohne Fraktionsdisziplin ein so großes Parlament, noch dazu in einer so großen Massen- und Parteiendemokratie organisieren möchte. Wie soll sich der Bürger entscheiden, wenn den Parteien eine klare Linie fehlt, weil jeder Abgeordnete nach eigenem Gusto abstimmt?

    Verweise auf das Grundgesetz gehen fehl, weil der Verfassungsanspruch doch wirklich wird, wenn der Staat den Abgeordneten nicht an der freien Stimmabgabe hindert. Der Rest ist Politik, der Kampf um Mehrheiten, knallharte Demokratie.

    Offene Diskussionen innerhalb der Fraktionen sind sehr wichtig und letztlich muss man sich dort auf eine gemeinsame Position einigen, die man dann draußen vor Parlament und Öffentlichkeit gemeinsam solidarisch vertritt. Schließlich will man doch mit seinen Parteifreunden Politik machen und nicht gegen sie. Sonst hätte man sich einer Fraktion oder Partei nicht anschließen brauchen.
    Davon ausgenommen sind in meinen Augen stets solche Fragen, die einen politischen Kompromiss in Form des Mittragens der Fraktionslinie nicht mehr mit dem eigenen Gewissen vereinbaren lassen. Aber dafür scheint es ja den nötigen Raum zu geben.

  2. Lieber „Colis“,
    ich möchte Ihnen widersprechen und Anke Domscheid-Berg zustimmen.
    Nach GG sollten Abgeordntete nur ihrem Gewissen ( und dementsprechend ihren Wahlaussagen und Wahlversprechen) verpflichtet sein.
    Abstimmungen, die , wie so oft, den Wahlprogrammen widersprechen würden sich damit eigentlich verbieten ( z.B. MwSt 19%, oder Merkels nein zur PKW-Maut etc.)
    Aber Abgeordntete sind in höherem Maß als ihren (Gewissens-) Aussagen von „gestern“ ihrem Geldbeutel verpflichtet.
    Und dieser Geldbeutel wirtd von staatswegen üppig gefüllt. Derzeit beträgt das Abgeordneteneinkommen 9082 Euro brutto ( Steuer und Krankenkasse werden abgezogen, aber Rentenbeiträge sind wegen „Pensionsansprüchen“ nicht abzuführen).
    Dafür hat das Parlament nur 25 Sitzungswochen. D.h. 26 Wochen sind sitzungsfrei und für persönliche „Beziehungspflege“ in Wahlkreis und Partei frei. Denn diese „Beziehungspflege“ , die dem persönlichen Fortkommen dient , ist natürlich eigentlich nicht Bestandteil der staatlichen Abgeordnetenbezahlung.
    Denn ansonsten würden Gegenkandidaten, die es bekanntlich ja auch manchmal in den Parteien geben soll ( ich habe hierzu selbst leidvolle Erfahrungen gemacht) gegenüber den staatlich gestärkten Alt-kandidaten benachteiligt. Was ja auch dadurch der Fall ist, dass die Alt-Abgeordneten über eine ganze Reihe von staatlich (!) bezahlten Mitarbeitern verfügen, die in der Partei aus Eigeninteresse natürlich effektiv Stimmung gegen neue Gegenkandidaten machen.
    Ich versuch daher in Berlin eine Bevölkerungsabstimmung zu initiieren, die die Abgeordnetendiäten auf das Durchschnittseinkommen der Bevölkerung (z.Zt. ca 2800 brutto) reduzieren soll. Und dazu sollen Abgeordntenmitarbeiter nicht der gleichen Partei angehören ( wie es schon bzgl der eigenen Familie der Fall ist) , wg. Vetternwirtschaft und innerparteilichen finanziellen Abhängigkeiten.
    venceremos
    Bernd

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